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Leseprobe
aus "Sternendiebe"
Juma
und ich saßen an unserem Stammplatz, als ein Mann zu uns an den Tisch
trat und mich freudig begrüßte.
„Hey Nicky, schön dich hier zu sehen, wie geht es dir?“ Es war Mr. Kakwamba,
den ich vor drei Jahren bei einem Praktikum, das ich für mein Studium
in Deutschland absolvierte, in einer Textilfabrik hier in Dar es Salaam
kennen gelernt hatte. Was für eine Überraschung, ihn nach so langer Zeit
wieder zu sehen! Er bestellte sich Wali na Marahagwe, Reis mit Bohnen,
und setzte sich zu uns an den Tisch.
Mir entgingen nicht die missbilligenden Blicke, die er Juma zuwarf, während
er hastig sein Essen hinunterschlang. Er schien nervös zu sein und hatte
es auf einmal verdammt eilig. Schon nach fünf Minuten sprang er wieder
auf, beugte sich zuvor aber noch ungeschickt über den Tisch zu mir herüber
und flüsterte „Nicky, du musst aufpassen! Der Junge ist bestimmt darauf
aus, dich auszurauben! Ich kenne Typen wie den. Gib dich nicht mit solchen
Leuten ab!“
Ich war baff, was sollte das? Nur zu gerne hätte ich Mr. Kakwamba zur
Rede gestellt, aber in der nächsten Sekunde war er auch schon auf und
davon. Ich sah zu Juma hinüber, der vor Wut kochte. Natürlich hatte er
alles mitbekommen.
„Ich habe es so satt! Für solche Typen bleiben wir immer Gangster und
Betrüger, egal was wir anstellen um wieder auf die Beine zu kommen“, murmelte
er grimmig.
„Ach Juma, vergiss es einfach, der hat doch keine Ahnung. Und überhaupt,
mir können solch voreingenommenen Urteile gestohlen bleiben. Du warst
mir gegenüber offen, was deine Vergangenheit angeht. Also kann dich mir
auch kein Mensch mehr schlecht reden“, versuchte ich Juma zu beschwichtigen.
„Na gut, dir kann ich vertrauen. Dann will ich dir mal noch mehr aus meinem
Leben erzählen. You understand what I tell?“, sagte er nun plötzlich auf
Englisch.
„Du bist vielleicht einer! Ich wusste gar nicht, dass du auch Englisch
sprichst. Wo hast du das denn gelernt?“, fragte ich ihn erstaunt. „Sister,
ich verrate dir was. Vor ein paar Jahren war ich in Südafrika und habe
mich dort eines Tages zusammen mit einem anderen Straßenjungen auf ein
Schiff geschlichen“, flüsterte er und rückte mit seinem Plastikstuhl ein
wenig näher an mich heran.
„Du warst schon einmal in Südafrika?“ Jetzt war ich erst recht verblüfft.
„Klar, wenn ich es dir doch sage! Und es war kein kleines Schiff, nein,
ein riesiges Frachtschiff, voll beladen mit großen Containern, die mit
Kies gefüllt waren!“, erzählte er und demonstrierte dabei mit seinen Armen
die Größe des Schiffes. „Oben drauf stand PANAMA geschrieben. Wir hatten
keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Wir hielten es für den Namen der
Schiffsgesellschaft. Aber eigentlich war uns das alles egal. Hauptsache
wir kamen raus aus Afrika. Was spielte es schon für eine Rolle, ob wir
in Europa, Amerika oder in Asien landeten? Nichts konnte schlimmer sein,
als unser Leben auf der Straße, für das sogar unsere eigenen Landsleute
nur Spott und Verachtung übrig haben.“
In den buntesten Farben malte mir Juma seinen Traum vom Leben in Europa
aus. Seinen Erzählungen lauschend, schweiften meine Gedanken für einen
Augenblick ab. Zu Sofia, meiner ersten afrikanischen Freundin. Ursprünglich
kam sie aus einem armen Dorf am Fuße des Kilimandscharo. Sofia, sehr dürr
und nur wenige Jahre jünger als ich, war als Hausmädchen bei einer wohlhabenden
Familie angestellt. Während meiner ersten Zeit in Afrika, teilten wir
uns in Dar es Salaam ein halbes Jahr lang das Stockbett in unserem kleinen
Zimmer. Einmal erzählte ich Sofia von Amerika und New York, woraufhin
sie mich verwundert fragte, was denn New York sei. Ihre Ahnungslosigkeit
machte mich nachdenklich. Warum sollte es auch so wichtig sein, New York
zu kennen? Zwar würde man in Deutschland als der letzte Dummkopf dastehen,
wenn man so etwas nicht wüsste, aber in Sofias Welt, in der Luxusgeschäfte,
Limousinen und anderer Überfluss keine Rolle spielten, zählten eben andere
Werte, die mir für ein erfüllendes Leben sinnvoller erscheinen.
Sofia fand immer die Zeit, mir neben dem Kochen geduldig Suaheli beizubringen
und mich mit ihrer witzigen Art zum Lachen zu bringen. Auf Englisch konnten
wir uns nicht verständigen, deshalb schnappte sie sich bei unserer ersten
Begegnung einfach die Hauskatze und zeigte auf deren Ohr. „Sikio! Sema
sikio!“, forderte sie mich mit ihrer hellen Stimme auf, meine ersten Suaheli-Worte
auszusprechen. Mit „mdomo“ ging es dann auch gleich weiter, indem sie
mir die Katzenschnauze entgegenstreckte. Jumas wildes Gestikulieren holte
mich wieder zu unserem Gespräch zurück.
„Habe ich dich also richtig verstanden, ihr seid auf einem Schiff gelandet,
das auf dem Weg nach Amerika war? Und wie habt ihr es geschafft, auf das
Schiff zu kommen?“
„Ja, dazu musst du eben verdammt schlau sein. Es war in Port Elizabeth,
nachts um vier. Die Wächter am Hafeneingang waren um diese Zeit bereits
müde und so konnten wir uns unbemerkt auf das Gelände schleichen. Beim
nächstbesten Schiff, das dort an der Kaimauer lag, zogen wir uns am Anker
hinauf. Für uns Afrikaner ist das nicht weiter schwer, wir klettern ja
selbst an Kokosnusspalmen hoch. (...)
(...) Unglaublich, welch außergewöhnliche Abenteuer Juma auf der Suche
nach einer besseren Zukunft schon erlebt hatte. Ohne ihn zu unterbrechen,
hörte ich seiner aufregenden Geschichte, die er mit lebendigen Gesten
vortrug, weiterhin gespannt zu.
„Danach sperrte uns der Kapitän wie Gefangene in eine Kajüte, bis das
Schiff in Senegal Zwischenstopp machen würde, um noch mehr Container aufzuladen.
In jenen Tagen kamen immer wieder Matrosen zu uns ans Fenster und brachten
uns etwas Englisch bei. Die waren schwer in Ordnung. Einer wollte von
mir wissen, warum ich mich auf das Schiff geschlichen hatte.“
„Und, was hast du zu ihm gesagt?“
„Dasselbe, was ich ihm auch heute noch antworten würde. Egal wie sehr
ich mir den Kopf zerbreche, ich finde keinen Ausweg aus meinem kaputten
Leben in Afrika. Ich bin ein Straßenjunge ohne Rechte. Wenn ich darüber
nachdenke, mit wie wenig ich schon zurechtkommen musste, dann könnte ich
weinen. Ich habe schon oft bereut, dass ich überhaupt geboren wurde.“
Das sagte er so traurig, dass ich ihn am liebsten an Ort und Stelle in
den Arm genommen hätte. Der trostlose Ausdruck in seinen Augen traf mich
mitten ins Herz. Doch mit seinem nächsten Satz schockte er mich. „Einmal
habe ich sogar schon eine Flasche auf dem Boden zerschlagen und die Glasscherben
geschluckt, um mich umzubringen. Aber es hat nicht funktioniert“, sagte
er leise und mit unverwandtem Blick.
„Juma, bitte mach so etwas nie wieder! Hörst du?“ Wieder einmal wurde
mir vor Augen geführt, wie wenig ihn bereits so viele Male nur noch vom
Tod getrennt hatte.
Juma überging meine Fassungslosigkeit einfach, indem er weitererzählte.
„Für kurze Zeit lebte ich mal bei Verwandten. Ich wusste einfach nicht
wohin mit mir, als mein Vater mich damals mit sieben Jahren auf die Straße
gejagt hatte. (...)
(...) Weißt du, Nicky, einfach alle, meine Familie und meine Freunde,
sind weit weg von mir. Auch wenn wir uns untereinander helfen, so wie
Samuel und ich das tun, bin ich doch eigentlich völlig allein auf der
Straße. Viele Jungs wie ich haben keine Arbeit. Ist es da verwunderlich,
dass manch einer aufgibt und keine Hoffnung mehr hat, dass sich jemals
etwas ändern wird. Verstehst du mich?“
Verstanden hatte ich ihn schon, nur gab es da etwas, was mich unheimlich
irritierte. Ich konnte Juma gar nicht mehr richtig folgen, und das, obwohl
ich seiner schönen Stimme gerne zuhörte. Denn ihm schienen Berührungsängste
fremd zu sein. Die ganze Zeit über nahm er meine Finger in seine warme
Hand und streichelte sie wie selbstverständlich. Keine blöde Anmache,
nein. Nur so nebenbei, ganz in seinen Lebensbericht vertieft, ohne sich
auch nur das Geringste dabei zu denken. In mir dagegen begann alles zu
kribbeln.
Meine Güte! War ich denn jetzt vollends übergeschnappt? In mir setzte
sich alles zur Wehr. Ich durfte diese Gefühle nicht zulassen. Nur, weil
ich schon lange keinen Freund mehr hatte, war das doch kein Grund, bei
den sanften Berührungen dieses geschwächten, verzweifelten Straßenjungen
Schmetterlinge im Bauch zu bekommen. Oder waren wir mit unseren langen,
einfühlsamen Gesprächen vielleicht schon längst auf dem Weg dazu, uns
zu verlieben? Ich verstand mich selbst nicht mehr und beschloss, eine
solche Spinnerei auf gar keinen Fall ernst zu nehmen. Dennoch entzog ich
mich seinen sanften Berührungen nicht, als er fortfuhr, mir aus seinem
Leben zu erzählen …
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